Die mich umgebende Außenwelt nehme ich als unvorhergesehene Eigenbewegung der „Projektionsfläche Welt“ wahr;
Zeichen als Ergebnisse von Denken, Bewusstsein oder Interpretation nicht als deren Voraussetzung.
Zeichen als Reduktion und Versuch der Objektivierung in einer allgemein fließenden Bewegung.
Als Konsequenz aus diesem Gedankenexperiment entsteht „Nomos Alto“ (Arbeitstitel).
Die Partitur gerät in Bewegung und verweigert sich damit einer traditionellen Interpretation, da das Zeichensystem sich
während des Interpretationsprozesses schon weiter entwickelt und verändert hat und -metaphorisch- auf eine Intertextualität reagiert.
Text (Partitur) und Interpretation werden quasi ununterscheidbar.
Im Dreiklang: Zeichensystem (Partitur) – Objekt (Werk) – Interpretation ist die Partitur zunächst eine sicher scheinende greifbare Materialität.
Eine Aufführung verweist nur beschränkt auf das Werk, da es potentiell unendlich viele Interpretationen gibt: Verschiedene Interpreten beziehen sich
auf vorangegangene Interpretationen und somit auf das Verhältnis zwischen Werk und Partitur.
Vorausgehende Aufführungen werden zum „Zeichen“ dieses neuen „Objektes“, der semiotische Prozess wird dabei zu einem unendliche Netz von Relationen.
Der Werkbegriff gerät in Bewegung, wird angreifbarer, unfassbarer, bringt aber den Prozess in Bewegung, ist Anlass und Ausgangspunkt aber immer abhängig von der Interpretation.
Außerhalb ihrer existiert nur Tinte und Papier. Das Spiel der Interpretation bezieht aber nicht nur die vorausgegangenen Interpretationen mit ein, sondern auch andere, auch außermusikalische Einflüsse mit ein; eine ganze „Enzyklopädie“ (*1) von Einflüssen.
Dies geschieht ebenso im kompositorischen Prozess ! Ein Netz von Verweisen – Komposition und Interpretation nähern sich aneinander an indem sie zum Intertext werden.
„Wie man jetzt voraussetzen kann, kommen in der Wirklichkeit keine Zeichensysteme vor, die völlig exakt und funktional eindeutig für sich alleine funktionieren. (…)
Sie funktionieren nur, weil sie in ein bestimmtes semiotisches Kontinuum eingebunden sind, das mit semiotischen Gebilden unterschiedlichen Typs,
die sich auf unterschiedlichem Organisationsniveau befinden, angefüllt ist. Ein derartiges Kontinuum wollen wir (…) als Semiosphäre bezeichnen.“ (*2)
Hintergrundwissen, Erfahrung, Einflüsse, Analyse sowie kulturelle Erscheinungen sind untrennbar miteinander verwoben. Eine Ausblendung von Intertextualität und eine (gewaltsame) Reduktion des musikalischen Textes auf scheinbar objektive Gegebenheiten reduziert den Reichtum an Möglichkeiten. Jede Feststellung ist jedoch Interpretation. Text und Interpretation sind nicht zu unterscheiden. Dies stellt das Konzept von Wiederholbarkeit zumindest in Frage: statt dessen ergibt sich eine spannende Perspektive: die unvermeidliche Interaktion von Text und Interpretation kann zusätzlichen Sinn erzeugen und neue Möglichkeiten erschaffen.
(*1)Vgl. Umberto Eco, Semiotica e filosofia del linguaggio, Torino 1984, 55-140
(*2) Jurij M. Lotman, Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), Heft 4, 288